Von Norgrimm Eisschrei Wieder einmal versammeln wir uns um zu Hören. Zum Hören von alten Legenden und Erzählungen. Nun doch lasst mich heute vorwegschicken, dass eine Geschichte immer erst durch das Hören groß wird, und eine Sage nur durch das Erzählen und Weitergeben zu einer Sage werden kann. Dies geschieht nicht durch sagenhafte Taten. Sowie nicht alle sagenhaften Taten wert sind, von ihnen zu berichten. Doch heute möchte ich von einer jungen Frau erzählen, welche dem Wind ein Freund war und welche den Sturm einfing. Ja ich höre, wie ihr euch fragt. Den Sturm fangen, wie sollte so etwas möglich sein? Dazu kann ich euch eines versichern. Einfach und nur mit reiner Macht ist es noch keinem, nicht einmal den größten Helden, gelungen den Wind zu greifen, die Luft zu halten, geschweige denn den Sturm zu fangen. Hierzu bedurfte es eines Mädchens, einer jungen Frau. Hierzu bedurfte es Moralains. Moralain selbst lebte zur Zeit unserer Erzählung in einer Zeit Großer Helden. In einer Zeit großer Krieger, welche die Welt und die Herzen aller erschütterten und mit jeder ihrer Heldentaten Trauer und Einsamkeit wuchs. Ihr alle kennt Geschichten aus dieser Zeit. Geschichten vom Maurithane, dem Ritter aus Eis und Schnee, oder von Ilesz Ira, der Bändigerin der dunkelsten Träume, sowie von Aon-Eria Zaubersang, deren Stimme und deren Schönheit aus Hass Verlangen und aus Trauer Sehnsucht werden ließ. Doch diese Großen tun sich oft wie allgemein bekannt schwer mit den kleinen Dingen, und so berichte ich heute von Moralain Juraviel. Es begab sich aber zu jener Zeit, dass das Mädchen einsam wurde. Mutterseelenallein ward es in einem leeren Haus, in einem verlassenen Dorfe und saß auf einem alten Stuhl. Dort saß sie und sehnte sich. Sehnte sich nach Geborgenheit und Trost. Wo sollte sie finden, wonach sie sich so sehr sehnte? Nur der Wind war da und spielte scheinbar gelangweilt an losen Läden und Fenstern. So saß Moralain dort, alleine, und lauschte dem Geräusch der Einsamkeit. Sie horchte und lauschte, bis sie etwas gewahr wurde. Sie erkannte, was sie wahrgenommen hatte, als das Lied der Einsamkeit. Ja sie hatte es schon so lange gehört. Doch wer, wenn nicht sie, sollte dieses Lied sonst singen? Wer war hier noch einsam? Moralain stand auf und sah sich um. Sie sah einen alten Stuhl in einem sonst leeren Hause, welches in einem verlassenen Dorfe stand. Sie sah eine klappernde Tür und ein wenig Gras, welches sich träge im Wind hin und her wiegte. Sie lief los. Hinaus aus dem Hause und hin zu dem Gras. Jedoch das Gras war nicht einsam. Es hatte sich, den Sonnenschein am Himmel, die Wärme der Luft und das war gut und billig so. Noch immer vernahm Moralain diese Melodie. Ein sanftes Lied, welches von hundert Orten und tausend Gesichtern erzählen konnte. Ein Lied, welches die endlosen Weiten der Meere und die Räume der großen Wälder kannte. Dieses Lied sang von so vielem, doch Moralain hörte in diesem Lied, dass etwas fehlte. Sie hörte das Fehlen von einem Zuhause und dem Fehlen von Freundschaft, und sie hörte die unvorstellbare Sehnsucht. Dieses Lied schnitt tief in das Herz der jungen Frau, hinterließ es dort doch das Gefühl von Trauer, Sehnsucht, aber vor allem von Erkennen und von Verstehen Während sie noch dastand und lauschte, verklang das Lied und ließ nur ein sanftes Säuseln auf der leeren Straße zurück. Mit jedem verstreichendem Schlag in Moralains Brust wurde ihr Herz schwerer. Das Gefühl des Verstandenwerdens schwand dahin und ließ sie alleine zurück. Moralain rief, sie schrie, doch kein Säuseln, kein Lied, kamen zu ihr zurück. So lief sie los. Rannte dem Liede hinterher. Vermochte jemand jemals ein Lied einzufangen? Erwies so etwas sich nicht als hoffnungslos? Sie suchte und lauschte an allen Orten. Denn überall, wo sie hinkam, schien das Lied anwesend zu sein. Überall konnte sie es hören, es tief in sich fühlen. Moralain folgte dieser Melodie und erkannte alsbald den Sänger. Es war der Wind, welcher stets von Ort zu Ort zog. Der Wind, den alle Welt kannte, doch welcher nirgends zu Hause war. So lief sie mit dem Wind. Sie lief mit ihm über Steppen und durch Wälder. Tanzte zu seinem Lied und sang zu ihm, wenn er verstummte Sie folgte ihm an so viele Orte und gab ihm ein Zuhause, in ihrem Haar und ihrer Brust. Sie durchlief mit ihm so viele Orte und schenkte ihm und sich Zweisamkeit, bis sie an etwas Düsteres gelangten. An einer Statt, wo die Moral der Kraft und das Geben dem Verlangen schon vor langer Zeit gewichen war. An jenem Ort traf sie auf ebenso düstere Gestalten, die von ihr weit mehr verlangten, als das Mädchen zu geben bereit war. Denn was Moralain vor langer Zeit schon erkannt hatte, dass man nicht verlangen kann, was freiwillig gegeben wird, wussten diese noch nicht. So bedrängten sie Moralain. Sie verfolgten ihre Flucht bis an die höchsten Klippen vor dem tosenden Meer. Angst nahm mit Macht Platz in der Brust der jungen Frau ein. Sie wich Schritt um Schritt vor den Gestalten zurück, dem Abgrund entgegen. Und als sie keinen Schritt mehr weichen konnte, spürte sie ihren Freund. Sie fühlte sein Spiel in ihren Haaren und vernahm sein Lied. Er nahm ihr die Angst vor den Gestalten, denn sie hatte einen Freund gefunden. So tat Moralain noch einen Schritt. Der Wind umspielte sie, ganz umschloss er sie und als ihre Brust ihn nicht mehr halten konnte, hielt er sie. Er trug sie hinauf, höher als sie je gewagt hatte zu blicken. Höher als die höchsten Berge und hielt sie dort. Denn sie war seine einzige Freundin. Ja, es mag ja sein, dass vom Winde berichtet wird, er sei launisch, hart und grausam sowie nirgends zu Hause. Doch eines kann nicht über ihn berichtet werden. Er würde Freundschaft vergessen. So, wie er immer wieder zu uns allen zurückkehrt, so vergaß er Moralain auch nicht. Er schwoll an im Zorne über diese Gestalten und wurde zu einem Sturm. Einem Sturm, von welchem wir uns heute noch erzählen. Lasst mich für heute damit enden, dass, mag es wohl so sein, es nie Moralains Absicht war, den Sturm zu fangen. Dennoch ist es nun ihr Sturm, ihr Wind, welcher über unsere Ebenen, durch unsere Dörfer und Wälder streift. Denn sie hat erkannt, es gibt Dinge, welche man sich nicht nehmen kann. Welche man sich schenken lassen muss, damit sie nicht vergehen.
Messer Schere Gabel Licht wer nicht wagt gewinnt auch nicht